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 Der Kosmos  

 von Kreisau  

von Maria Ossowski

 

Man nehme: eine Papierserviette für das Konzept, einen historischen Ort mit einer berührenden Familiengeschichte, einen runden Geburtstag für die besondere Idee, die Leidenschaft für das gemeinsame Musizieren und den Glauben an die Zukunft Europas. So beginnt die Geschichte eines Kammermusikfestivals, das in seiner Art weltweit einmalig ist: deutsch und polnisch gleichermaßen, künstlerisch auf höchstem Niveau und dabei politisch ausgerichtet, mit jeweils 50 jungen Musikern aus 20 Nationen, die Stars werden können und Mentors oder Seniors, die weltberühmt sind, die ihren Status jedoch hier, während der zwei niederschlesischen Sommerwochen, niemanden spüren lassen.

Familienort und die Zukunft Europas
Alles begann im Jahre 2013, Matthias von Hülsen und seine Frau Dorothy hatten Freunde und Weggefährten zu seinem runden Geburtstag auf das Gut Kreisau geladen. Im Stiftungsrat der Freya von Moltke Stiftung und der polnischen Begegnungsstätte von Krzyżowa engagiert, war es von Hülsens ein Anliegen, diesen für die europäische Geschichte so zentralen Ort an der Peripherie Polens wieder in den Fokus des internationalen Kulturlebens zu rücken. Einst vom berühmten Generalfeldmarschall neugestaltet, war dieses Gut fast hundert Jahre im Besitz der Familie von Moltke. Dorothys Onkel, Helmuth James Graf von Moltke, war ein dezidierter Gegner des NS-Regimes, und so lud er 1942 und 1943, mitten im Krieg, demokratisch und humanistisch gesonnene Freunde nach Kreisau ein, natürlich geheim, um mit ihnen eine menschliche Zukunft für die Zeit nach dem Naziterror zu entwerfen. Die Freunde des Kreisauer Kreises wollten Europa gemäß den Prinzipien eines friedlichen Miteinanders, der Selbstbestimmung und der politischen Verantwortung des Einzelnen neu ordnen. Helmuth James Graf von Moltke und einige seiner Freunde bezahlten diese Zivilcourage mit dem Leben.

 „… war sie just aus dieser Kammer-  
  musik-Oase in Vermont zurückgekehrt, 
  voller Erlebnisse und Ideen.“ 

Von Hülsen selbst hatte seine Eltern in einer Berliner Bombennacht verloren, Verwandte brachten das Baby nach Kreisau, von wo aus die übrige Familie 1945 Richtung Nordwesten fliehen musste. Der Ort symbolisiert also die Geschichte nicht nur eines wichtigen Teils des deutschen Widerstandes, sondern auch die Familienschicksale der Dorothy von Moltke und ihres Mannes Matthias von Hülsen.

Die Papierserviette
Der ehemalige Kinderarzt Dr. Matthias von Hülsen, Mitbegründer des Schleswig-Holstein Musik Festivals und Gründer der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, schien angekommen an einem Ort, der wie kein anderer zum europäischen Einigungsgedanken, zur deutsch-polnischen Freundschaft und zu seiner Familiengeschichte passte. Entscheidend für das Gelingen der musikalischen Vorhaben war die Geigerin und langjährige Freundin der Familie, Viviane Hagner.

Regelmäßig zu Gast beim traditionsreichen amerikanischen Musikfestival in Marlboro, war sie just aus dieser Kammermusik-Oase in Vermont für das Geburtstagsfest zurückgekehrt, voller Erlebnisse und Ideen.

Jetzt kommt die Papierserviette zu ihrem Einsatz. Von Hülsen und Hagner setzten sich 2014 mit Gleichgesinnten zusammen und entwarfen ein Konzept für Kreisau: Orte, Strategien, Verantwortliche, Schirmherren, Kosten. Die Serviette war vollgeschrieben, die Strukturen klar, das Geld wie immer wenig, die Hingabe ans Projekt jedoch riesig. Die kammermusikalische Kunst sollte im Mittelpunkt stehen, das gemeinsame Proben, das aufmerksame Zuhören im Kreise Gleichgesinnter.


Freundschaft statt Starkult
Dank Viviane Hagner schwebte der Geist von Marlboro über den Anfängen von Krzyżowa-Music. Kammermusikkoryphäen wie Arnold Steinhardt als Senior konnte Viviane in die niederschlesische Provinz locken. Seniors sind keine Lehrer, sondern aktive Zuhörer, die mit den Juniors und Mentors über Kompositionen diskutieren und verschiedene Interpretationsmöglichkeiten oder Lesarten der Partitur aufzeigen. Sie gerieren sich nicht als Allwissende, sondern sie geben ihre persönlichen Erfahrungen an die Juniors weiter.

„… mit seinem entschleunigten 
  Geist geriet Kreisau zum Geheimtipp.“ 

Mentors wiederum sind bereits Musiker, die sich als Juniors besonders bewährt hatten, die in verschiedenen Formationen mit Juniors gemeinsam musizieren. Alle bilden eine große musikalische Familie, die zwei Wochen Zeit hat, intensiv miteinander zu proben. Keine Anreise ins anonyme Hotel, um durch den Hintereingang auf die Bühne eines Konzerthauses zu gelangen, zu spielen, sich zu verbeugen und am nächsten Morgen weiter zu hasten. Nein, Kreisau ist anders. Zeit, Ruhe, Austausch, gemeinsame Freizeit, enge Kontakte mit dem Publikum und außergewöhnliche Spielorte in Kirchen, Schlössern, dem Fürstlichen Theater von Bad Salzbrunn oder der Universität, der Synagoge oder dem Nationalen Musikforum von Breslau: Mit seinem entschleunigten Geist geriet Kreisau zum Geheimtipp. Alfred Brendel, Midori, Judith Serkin, der bekannte polnische Pianist Krzysztof Jabłoński, der aus Krakau stammende Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, Daniel Stabrawa, die Pianistin Veronika Jochum von Moltke, der Cellist Eckart Runge, die Bratschisten Tabea Zimmermann, Volker Jacobsen und Nils Mönkemeyer, sie alle und viele weitere weltbekannte Musiker haben dem Festival immer mehr Glanz verliehen.
 

Viviane Hagner sucht die Juniors mit einer Fachjury aus und lädt die Mentors und Seniors ein, gemeinsam gestalten sie die Programme, die nach intensiven Proben auf dem Gut in Kreisau meist erst zwei Tage vor den Abschlusskonzerten feststehen. „Die nette, herzliche, bescheidene und bodenständige Atmosphäre beglückt uns alle“, erzählt Viviane Hagner. „Kreisau ist das Gegenteil von Luxus. Es gibt keinen Klassik-Jetset hier. Keine üblichen Ablenkungen. Nur Musik, Konzentration, Freundschaften und Zeit, viel Zeit.“

„… Kreisau mache dank der Symposien 
  zudem bewusst, wie politisch, wie 
  moralisch die Beschäftigung mit Musik 
  sein kann und darf.“ 

Gemeinsame Proben, das Publikum hört zu, gemeinsame Mahlzeiten und vor allem: ein gemeinsames Nachdenken über die politischen Gegebenheiten des historischen Ortes und der Gegenwart machen Krzyżowa-Music so einzigartig.

Musik und Politik
„Die Musiker sollen wissen, wo sie spielen, was diesen Ort besonders macht, und dieses Wissen soll sich verbinden mit den zurzeit aktuellen Fragen und den Erschütterungen, die uns umtreiben“, so Matthias von Hülsen. Die Musiker diskutieren mit Experten über den Klimawandel und den ökologischen Fußabdruck ihrer Reisen, auf dem Podium erörtern Fachleute die Hintergründe des Ukrainekriegs. Während der Proteste 2019 haben die Symposiumsverantwortlichen eine Leitung in die belarussische Hauptstadt Minsk geschaltet und dort den Betroffenen zugehört. Musik im besetzten Polen war ein Schwerpunktthema, als Zeitzeugen berichteten die Witwe und der Sohn von Władysław Szpilman, „Der Pianist“. Im Jubiläumsjahr 2024 wird der Pianist und Putinkritiker Evgenij Kissin zugeschaltet.

Kreisau heißt nicht Flucht in die Musik, weitab aller Sorgen. Musiker können sich hier politisch und historisch weiterbilden, ihren Horizont erweitern und so, falls sie mögen, Standpunkte beziehen zu brennenden politischen Fragen.

Während der Corona Pandemie 2020 war Krzyżowa-Music das einzige Kammermusikfestival, das stattfinden konnte. Weltweit. Alle, die dabei sein konnten, Musiker und Besucher, erinnern sich voller Dankbarkeit. Matthias von Hülsen hatte es einfach nicht zulassen wollen, dieses Juwel aufzugeben. Ein Rostocker Sponsor, Centogene, hatte ständige Tests ermöglicht. Trotz aller Unsicherheiten, es galt das Mantra des Ermöglichers: „Wir müssen das schaffen“, so von Hülsen. Sie haben es geschafft.


Die Vernetzer
Volker Jacobsen, Grandseigneur der Kammermusik, einer der Gründer des Artemis Quartetts, international gefeierter Solobratscher und Hochschullehrer in Hannover und Brüssel, begleitet das Festival seit den Anfangsjahren als Senior. Die Vernetzung der Musiker aus unterschiedlichen Generationen sei ein wichtiger Aspekt dieser zwei Wochen. Junge Musiker lernen einander und die älteren kennen, Ältere wie er staunen über die Herausforderungen, denen sich junge Künstler heute stellen müssen. Nichts ist mehr selbstverständlich während der Karrieren. Die Branche hat sich verändert, junge Menschen müssen mehr Initiative übernehmen. Jacobsen selbst konnte noch vorhandene Strukturen nutzen. „Mir wurden zur richtigen Zeit die richtigen Türen geöffnet. Heute müssen sich die jungen Leute ihre Türen selbst bauen“. Sie müssen sich ihren Platz erarbeiten.

Kammermusikalische Erfahrungen aus Kreisau helfen. Kreisaus Geist tragen die jungen Musiker in die Welt hinaus, einige von ihnen haben bereits eigene Festivals gegründet, den Kreisauer Prinzipien verpflichtet.

„Niemand hier sollte darauf pochen, die erste Geige zu spielen. Wer das verlangt, hat weder die Kammermusik noch den Geist von Kreisau verstanden“, so Jacobsen. Kreisau mache dank der Symposien zudem bewusst, wie politisch, auch wie moralisch die Beschäftigung mit Musik sein kann und darf. Er erinnert sich an Sternstunden in der Arbeit mit den Juniors, an das Enescu-Oktett in Breslau, an das selten gespielte Klavierquartett A-Dur von Brahms oder an das Mendelssohn A-Dur Quintett mit zwei Bratschen.

„…Mittlerweile hat sich dies geändert,  
  die Säle sind voll, bis weit über die  
  Hälfte besetzt mit Gästen aus der  
  Umgebung.“  
    

Kreisau, so Jacobsen, sei kein Selbstläufer. Matthias von Hülsens jungenhafte Energie und seine Begeisterungsfähigkeit trügen das Festival. Ihm gelingt es immer wieder, die Außenminister Polens und Deutschlands zu Schirmherren des Festivals zu gewinnen. Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande an Viviane Hagner und den Gründer sei eine schöne Geste und mehr als verdient gewesen.

Fußball als Erholung
Der Geiger Niklas Liepe, erfolgreicher Absolvent vieler Wettbewerbe, hat zwei Mal als Junior im Festival Krzyżowa-Music mitgespielt. Ihn hat der historische Hintergrund des Ortes ebenso gefesselt wie der europäische Gedanke. Trotz der vielen verschiedenen Sprachen: die Sprache der Musik vereint. Und die Liebe zum Fußball. Nach den Proben werden auf dem Platz in der Mitte des Gutes die Tore aufgebaut. Fußball als Ausgleich für die lange Zeit der Proben: „Fußball ist Kammermusik gar nicht so unähnlich. Wir müssen ein funktionierendes Team auf die Beine stellen. Wir müssen antizipieren, was die Anderen vorhaben. Wir müssen die Rollen verteilen. Wer ist Stürmer? Mittelfeld? Abwehr? Torwart?“ Als Geiger wäre er eher ein Stürmer, aber sein Talent, so Liepe, entwickle sich besser als Rechtsaußen im Mittelfeld.

Publikum
Niederschlesien als neues Zentrum der europäischen Kammermusik, wer weiß überhaupt davon? Wer kommt? Wer genießt die Proben? Wer trinkt abends mit den Musikern ein Glas Wein, diskutiert mit ihnen? Gibt es ein treues Publikum aus der Region? Oder reisen die Gäste von weither an nach Niederschlesien? Vor zehn Jahren, so Matthias von Hülsen, waren sie unter sich, die Kammermusikliebhaber aus Berlin, Hamburg und Umgebung. Mittlerweile hat sich dies geändert, die Säle sind voll, bis weit über die Hälfte besetzt mit Gästen aus der Umgebung. Geld für Werbung gibt es nicht, dennoch finden dank des unermüdlichen und ehrenamtlichen Einsatzes von Sven Sochaczewsky und Janusz Gregorowicz alle Informationen ihren Weg ins Netz und in die wichtigen Publikationen. In diesem Jahr wird der Nationale Rundfunk Radio Polskie einen Teil der Konzerte übertragen.

Sabine Richter reist jedes Jahr mit ihrem Mann und Freunden aus Berlin nach Kreisau. Sie liebt Kammermusik, ist neugierig auf die jungen, frischen Interpretationen, genießt die Abende und die Freizeiten mit den Musikern.

Drei Menschen sind für sie die guten Geister von Kreisau: Matthias von Hülsen als Organisator, als beharrlicher, unerschütterlicher Werbender für Sponsorengelder in Deutschland, den USA und Polen. Dorothy von Hülsen, die die Geschichte Kreisaus lebendig hält, die Führungen im Berghaus anbietet und die dennoch nie ihre Familiengeschichte in den Vordergrund stellt. Und Viviane Hagner, die das Festi-
val als künstlerische Leiterin auf einzigartige Weise prägt.

Der Kosmos Kreisau, so der Gründer von Krzyżowa-Music, ist komplex. Die Finanzierung sorge jedes Jahr für schlaflose Nächte, er sei als Taschendieb im Auftrag der Kultur bettelnd bei Freunden, Firmen und Stiftungen unterwegs, und doch schafft er jeden Sommer das Wunder: Krzyżowa-Music findet statt. Eine halbe Million Euro wirbt Matthias von Hülsen alljährlich ein, dankbar für jede kleine und große Spende. Dankbar auch all jenen Helfern, die für ein „Vergelts Gott“ arbeiten. Wenn die erste Probe beginnt, wenn die Flügel endlich richtig gestimmt sind und alle Künstler und die Gäste eintauchen in das gemeinsame Glück großer Musik, dann entfaltet er sich und bezaubert – der Geist von Kreisau.

Maria Ossowski hat nach dem Studium der Geschichte und Literaturwissenschaft als Reporterin und Redakteurin in leitenden Funktionen gearbeitet und lebt heute als Kulturjournalistin in Berlin.

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